Dagewesenes

„Hier und da“, sage ich zu meinem Nachbarn und meine nicht ab und zu, „sollte jeder und jede einmal gewesen sein“, fahre ich fort, drehe meinen Kopf nach links und blicke ihm in seine warmen Augen, in welchen momentan zwei leuchtende Fragezeichen wohnen.

„Fragezeichen können sehr wohl auch am Anfang stehen“ ermuntere ich ihn, während ich eines in den weißen Sand vor unseren Füssen zeichne.

„Wovon ich denn genaugenommen soeben spräche?“ verlässt es seinen Mund und auch er zieht mit seiner linken großen Zehe die Form eines Fragezeichens in den Sand, hält kurz inne, und dreht seine Kopf zur Mitte, um auf das offene Meer zu starren.

„Anwesenheit“ erwidere ich, nun ebenfalls auf das große, weite Wasser blickend. „ das Empfinden von Gegenwart“.

Dieser letzte Satz löst eine Stille aus, welche sich nicht zwischen uns niederlässt, sondern in der wir ganz und gar aufgehen. In sie eingebettet verweilen wir wortlos, atmen rhythmisch entlang der Meeresbrandung und folgen der untergehenden Sonne mit unseren entspannten Augen.

„Wir tauschen die Sonne gegen die Sterne“ denke ich und überprüfe, ob dies ein geeigneter nächster Satz sein könnte, verliere den Gedanken jedoch an einen neuen und beginne die verschiedenen Farbnuancen des fortschreitenden Sonnenuntergangs zu zählen.

„Sonnenuntergang“ hallt es in meinem Kopf und „ die Sonne ist doch ein Fixstern und geht niemals irgendwo hin. Und schon gar nicht hinunter oder hinauf“ denke ich und überlege, ob ich wohl zu stur oder pedantisch sei in dieser Angelegenheit, da ich genaugenommen eine sehr beschränkte Vorstellung von diesem sogenannten Weltall, seinen

Gesetzmäßigkeiten und der Unendlichkeit des Raumes mein Eigen nenne.

Wie immer bei diesem unfassbaren Thema, überkommt mich eine süßliche, warme Traurigkeit.

„Wie klein und unbedeutend wir Menschen doch auf dieser Minikugel sind“ denke ich weiter und bemerke, dass ich meinen Nachbarn schon beinahe vergessen habe.

Der sitzt immer noch da. Immer noch neben mir. Und ich immer noch neben ihm. Wir inmitten unserer Stille. Er schaut auf das von seiner Zehe in den Sand gezogene Fragezeichen und schweigt unspürbar in diesen werdenden Abend hinein.

„Sein Fragezeichen sieht irgendwie eleganter aus“ denke ich weiter … aber auch egal …. ich werde diese Stille sicher nicht mit einem nächsten Satz zertrümmern … nein auf gar keinen Fall …. und außerdem war ich es, der die letzten vier Worte ausgesprochen hat: Das Empfinden von Gegenwart ……………… und dann kam da nichts mehr …. gar nichts …. Rein verbal …..

„Wahrscheinlich denkt er noch darüber nach. Sie ist ja auch eine kniffelige Angelegenheit diese Sache mit der Gegenwart ………….. Hier und Jetzt, der von zahllosen Kulturen allzu oft beschworene Moment … die Mitte, in der es angeblich zu sein gilt …… besonnen wie er ist, mein Herr Nachbar …. ja er wird gerade Höchstleistungen vollbringen, dort oben über seinen buschigen Augenbrauen“ und ich gebe der Versuchung, zu ihm hinüber mitten auf seine Stirn zu blicken, nicht nach …. eh nichts zu sehen ….. solange er noch hörbar gleichmäßig atmet“ denke ich „lasse ich ihm all die Zeit , welche er braucht um sich der Angelegenheit anzunähern. Schön langsam, nur nichts überstürzen, einatmen, ausatmen und wieder ein und wieder aus ……… geduldigst Richtung Nacht. Hinein ins schwärzeste Blau“ ….

und ich schrecke kurz auf, da

eine Möwe ihr Gelächter über den weiten, leeren Strand verteilt, komme wieder zu mir und lächle in mich hinein.

„Sich in Geduld zu üben“ denke ich“ dem anderen Raum zu geben“, drehen sich meine Gedanken weiter ….. lehne mich in mich zurück und vergewissere mir, mich absolut richtig zu verhalten …. „ja das ist es, was gerade eben angesagt ist, das ist es was nun gebraucht wird … das geduldige Gegenüber, der einfühlsame Zuhörer, ohne Druck und Zwang, den Dingen seinen Lauf lassen, einfach nur für ihn da sein, hier sitzend, atmend und die Stille solange zu teilen, bis er bereit ist. Bis er seine Antwort, seine Aussage, sein Statement vom Stapel lässt …..“

„Oder habe ich ihn mit meiner philosophischen Bemerkung etwa gelangweilt? Ist da gar nichts Tiefgründiges in meinen Überlegungen? Nur allzu Offensichtliches und Oberflächiges?

Was hat er nochmals auf die Frage nach seinem Beruf geantwortet?“ hämmert es weiter in meinem Gehirn. „Gestern erst war es. Nachmittags. Oben an der Strandbar. Ich mit Pommes und einem Radler. In angenehmer Brise. Er mit einem Espresso. Nicht allzu lange und wir fanden einander in einem entspannten Gespräch über die Nordsee und seine zauberhafte Dünenlandschaft wieder. Deutschland sagte er mit einem warmen, verträumten Lächeln im Gesicht. Bonn. Ruhrgebiet. Dort lebt er. Dort arbeitet er.“

„Aber was noch einmal war sein Beruf? Lehrer? Bankangestellter? Oder Professor?“ Mein Gedächtnis will nicht. Will mir nicht auf die Sprünge helfen. Immer wieder gehe ich in Gedanken zurück. An die Bar. Hin zu unserem Gespräch. „Witwer“. Sagte er. Und Literatur. Musik. Die Natur. Alles Angelegenheiten, welche ihn inspirieren. Detail für Detail steigt es in mir hoch. Jedoch kein Beruf weit und breit. „Lass es sein“ denke ich, versuche mich abzulenken und verfolge die Linie am Strand, welche die

Flut in den Sand malt, Abend für Abend und ich denke an die erfolgreiche Strategie, beim Suchen eine kleine Pause einzulegen um dem Finden eine Chance einzuräumen. Schon als Kind war ich mit diesem Phänomen vertraut. Stundenlanges suchen im Kopf nach einem Begriff. Nach dem Namen eines Sees. Zu spüren, dass dieser Name sich irgendwo da oben im Kopf befindet und es mir gerade nicht möglich ist, dort hin zu gelangen. Da liegt er. Brach. Unerreichbar. Und dann eine Pause. Ablenkung und der Begriff erhebt sich und gelangt in das Bewusstsein. Das Finden hat sein Werk vollbracht …..

Ich kehre zu der Linie am Strand zurück und folge ihr immer weiter Richtung Norden, den endlosen Sandstrand entlang und vermeine eine Bewegung wahrzunehmen. „Ist es ein Lebewesen? Ein Tier? Ein Mensch? Es kommt näher. In unsere Richtung! Eindeutig.“ Meine gesamte Aufmerksamkeit gilt diesem Ereignis! „Und ja, nun steht es fest. Es ist ein Mensch.“ Alleine schlendert er entlang der Wasserlinie, dort wo der Sand fest ist von der Brandung und hat seine Kopf hin zum Meer gedreht. „Weite“ denke ich und verspüre eine Sehnsucht und ein Ruhe in gleicher Weise. „Ob er wohl an uns vorüber geht? Wird er seine Stimme erheben. Einen Gruß aussprechen. Am Ende etwa stehen bleiben und uns in ein Gespräch verwickeln? Meinen Sitznachbarn aus Bonn aus seinen Überlegungen reißen? Ihn beim formulieren seiner Antwort stören? Werde ich am Ende niemals eine Antwort erhalten? Alleine gelassen mit meine Überlegungen zur Gegenwart am Strand zurückbleiben? Eventuell sogar ein Bekannter meines Nachbarn? Ein Kollege aus Bonn, der sich dann zu uns setzt und alles zerstört?“…..

Ich verspüre Schweiß auf meiner Stirn und an der Innenseite meiner Hände. Eine Unruhe. Ja eine Bedrohung sogar. Und sie kommt unaufhaltsam näher und näher. Langsam zwar aber stetig. „300 Meter

vielleicht. Maximal! 10 Minuten und er ist auf unserer Höhe. Und dann?“ Die Temperatur in mir steigt und meine Gedanken nehmen an Fahrt zu …………. „Was ist wohl zu tun? .……… Wie kann ich all das verhindern? Soll ich mein schweigen durchbrechen? Den Herrn Professor neben mir ……………… Ja genau! Professor hat er gesagt, Zeitgeschichte, Uni Bonn … alles ist wieder da und dennoch, was nützt dieser kleine Triumph angesichts der heranschlendernden Bedrohung aus dem Norden .. direkt auf uns zu ….. direkt in uns hinein ………………. in unsere produktive Stille … also was nun? Den Herrn Professor neben mir fragen, geradeaus ohne Ansatz, ob wir noch auf einen Drink hinauf zu unserer Bar gehen, ihn aus seine Gedanken reißen? Seine intellektuelle Welt aufbrechen ? Riskieren, dass ich so ebenfalls meine Chance auf eine Antwort zunichte mache?………….. 200 Meter .……. die Zeit drängt … Denk nach ….ja denk nach und entscheide dich .…………….. soll ich alles dem Zufall

überlassen?………….Vielleicht biegt der Unbekannte vorher ab? Geht zurück über den Strand hin zum Dorf? Oder er geht wortlos an uns vorüber? Oder aber auch er geht zu unserer Bar?“………………. ich schiele mit meinem linken Auge in die Richtung des Professors, um festzustellen, ob dieser noch immer in seiner ruhenden Position, geradeaus auf das Meer blickend, verharrt … nichts von meiner inneren Unruhe wahrnehmend ….. stelle fest, dass dem so ist und wende mich wieder meinem eigentlichen Problem zu …….. „150 Meter und immer noch Kurs auf uns beide …………… noch kein Anzeichen, dass der Fremde seinen

Strandspaziergang abbricht und wenn er so weiter schreitet ist er in 5 Minuten auf unserer Höhe und dann kann ich nichts mehr unternehmen, dann bin ich ihm vollkommen ausgeliefert …… dann wird er es entscheiden, wie diese Abend weitergeht“ ….. „ein Albtraum“ denke ich

und gerate zunehmend in eine Panik, welche mir meine Gedanken verwischt und mich handlungsunfähig zu machen scheint ….. „reiß dich zusammen“ sage ich mir und gehe alle Möglichkeiten noch einmal so gut ich es schaffe durch ….. „wenn ich den Vorschlag mache, zur Bar zu gehen, könnte die Intimität unserer Zusammenkunft gerettet werden und eventuell könnte unser anfängliches Gespräch dort wieder in Gang kommen … vorausgesetzt der unbekannte Spaziergänger ist nicht ebenfalls auf dem Weg zu dieser einzigen Strandbar weit und breit und setzt seinen Weg fort entlang der Brandung vorbei an unserem jetzigen Platz hinein in eine Dunkelheit, welche ihn aufnimmt und vollends verschluckt ……………… oder aber ich pokere und sage nichts …. halte unsere Stille aufrecht und gehe davon aus, dass es sich um keinen Kollegen oder Bekannten meines Nachbarn handelt und das

heranschlendernde Unheil wortlos vorüberzieht“ .……….. mein Puls steigt und steigt und wenn das so weiter geht ist es wohl mein laut pochendes Herz, welches den Professor aus den Gedanken reißt ………….. 80 Meter und noch immer keine Entscheidung .….……

„Herr Huber? Herr Huber? Herr Huber!“ Eine Stimme. Eine Frauenstimme. Sie dringt zu mir durch. Langsam und anfangs schallgedämpft. Dann immer klarer. Sie holt mich zurück. Diese Stimme. Hierher. In diesen Warteraum der neurologischen Abteilung des städtischen Krankenhauses. War ich tatsächlich eingeschlafen? War es ein vor mich hindösen? Habe ich all das einfach nur geträumt?

NEIN! Sage ich zu mir mit aller Nachdrücklichkeit. NEIN. Dies war kein Traum. Dies war eine Erinnerung. Meine Erinnerung. An meine

Vergangenheit. Glasklar. So ist es gewesen. Damals. Vor über dreißig Jahren. An diesem Nordseestrand.

Und einem Frühlingserwachen gleich sprießen Erinnerungsfragmente aus meinem tiefsten Inneren an eine bewusst erlebbare und für wahr genommene Oberfläche und ich meine die Stimme meines damaligen Sitznachbarn dort unten am Strand zu hören, ihren warmen, wohlwollenden Klang und ja ich habe all das nun vor mir … ihn und die Möwen und unsere in den Sand gezeichneten Fragezeichen, unsere geteilte Stille und ich lächle in mich hinein, als ich mich an diesen Moment erinnere, als ich der Panikattacke nahe, den fremden Spaziergänger entdeckt hatte, völlig unfähig, irgendetwas gegen all die aufsteigende Angst zu unternehmen. Ich sehe ihn nun deutlich vor mir, wie er an uns vorüberging, den Blick zum Wasser hin, so als möchte er weder in dem Seinen gestört werden noch unsere Zweisamkeit unaufgefordert unterbrechen. Wie jung ich doch war. Damals. Wie ängstlich. Immer mit der fantastische Illusion von kontrollierbarer Wirklichkeit ausgestattet. Süß. Irgendwie, denke ich. Und tauche wieder in die Bilder der Erinnerung ein. Hin zum Strand. Hin zu meinem Sitznachbarn, welcher, ich weiß es noch ganz genau, über 4 Stunden lang kein Wort mehr gesagt hatte, nach jenem letzten Satz und dann völlig unerwartet seinen Arm um meine Schulter legte und mich mit einem vor Gelassenheit strotzenden Blick fixierte. „ Danke“ sagt er dann “ Herzlichen Dank. Es ist eine wunderbare Sache, das mit der Gegenwart.“

Dann stand er auf und bewegte sich vom Strand weg nach hinten, hin zu der Bar, an der wir einander begegnet waren. „Kommen sie“ rief er über seine Schulter in meine Richtung „als Nächsten üben wir uns im Vergessen……………………...“